Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass eine Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit jährlich sechs Prozent ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig ist. Die Finanzämter dürfen das Gesetz allerdings für Verzinsungszeiträume bis einschließlich Dezember 2018 weiter anwenden. Für Verzinsungszeiträume ab Januar 2019 muss der Gesetzgeber bis Ende Juli 2022 eine neue gesetzliche Regelung schaffen – mit Rückwirkung. Die Richter haben auch entschieden, dass der Gesetzgeber trotz Verfassungswidrigkeit die Verzinsung für die Jahre 2014 bis 2018 nicht rückwirkend ändern muss.
Bereits seit längerem sorgen die seit Jahrzehnten unverändert hohen Steuerzinssätze von sechs Prozent pro Jahr für Unverständnis und in zahlreichen Fällen auch erhebliche wirtschaftliche Belastung. Das Marktzinsniveau ist kontinuierlich gesunken, und ein Ende der derzeitigen Niedrigzinsphase ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Der Steuerzinssatz hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr von einem mittel- und langfristigen Normalzinsniveau entfernt.
Der am 18. August 2021 veröffentlichte Beschluss des BVerfG überraschte die Fachwelt kaum. Den Steuerzahlern war die Höhe der Zinsen, die das Finanzamt für Steuernachforderungen ansetzt, bereits seit langem nicht mehr vermittelbar. Bei Steuererstattungen haben Steuerpflichtige aber auch davon profitiert. Wir wiederholt über Verfahren zur Zulässigkeit des Zinssatzes vor den Finanzgerichten, dem Bundesfinanzhof, Verwaltungsgerichten und dem BVerfG berichtet.
Verzinsung ab 2019 wird korrigiert
Der Gesetzgeber ist nunmehr verpflichtet, bis Ende Juli 2022 eine rückwirkende Neuregelung für alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 für noch nicht bestandskräftige Steuerbescheide zu erlassen. Für Sie bedeutet dieser Beschluss: Wenn Sie für Zeiträume ab Anfang 2019 Steuerzinsen gezahlt haben, können Sie mit einer nachträglichen Korrektur ihres Steuerbescheids rechnen, sofern dieser noch nicht bestandskräftig ist. Wegen der bereits seit längerem unklaren Rechtslage hatten die Finanzämter die Steuerzinsen ohnehin zuletzt in der Regel vorläufig festgesetzt, weshalb sehr viele Steuerzahler betroffen sein dürften. Wie hoch die Verzinsung ab 2019 ausfällt, ist zurzeit noch offen.
Das Bundesfinanzministerium hat sich kurz nach Veröffentlichung des Beschlusses des BVerfG mit einem Schreiben aus September 2021 zur weiteren Vorgehensweise geäußert:
- In sämtliche Steuerbescheide werden bis zu einer gesetzlichen Neuregelung Aussagen in Form von Nebenbestimmungen und Erläuterungen aufgenommen, um nach einer gesetzlichen Neuregelung den entsprechenden Zinssatz anwenden zu können.
- Endgültige, nicht mehr änderbare Zinsfestsetzungen für Zeiten ab Januar 2019 sind hiervon grundsätzlich nicht betroffen.
- Neu zu erlassende Bescheide, mit denen eine erstmalige Festsetzung von Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen einhergehen würde, werden von vornherein in Bezug auf diese Zinsen vorläufig „auf Null“ gesetzt, bis der Gesetzgeber die Ersatzregelung geschaffen hat und das Finanzamt diese sodann auf die Fälle – rückwirkend – anwenden kann.
- Bescheide, die vor dem Beschluss des BVerfG ergangen waren und die noch nicht endgültig sind, bleiben grundsätzlich weiterhin nicht endgültig, solange sie von keinem der Beteiligten „angefasst“ werden – unabhängig davon, ob die betreffenden Zinszahlungen geleistet, gestundet oder in anderer Weise ausgesetzt worden sind. Sobald der Gesetzgeber eine Ersatzregelung getroffen hat und damit für alle Beteiligten klar sein wird, welche Änderungen sich konkret ergeben, werden die Finanzämter diese Änderungen eigenständig und grundsätzlich ohne weiteren Antrag der Steuerpflichtigen in jedem einzelnen Fall von sich aus automatisiert vornehmen.
- Bei Bescheiden, die vor der Entscheidung des BVerfG ergangen sind und die jetzt geändert werden müssen, kommt es darauf an, ob sich durch die Änderung eine weitere Nachzahlung ergibt oder ob etwas zu erstatten ist: Bei einer weiteren Nachzahlung wird das Finanzamt die weiteren Steuerzinsen – wie bei den Neufestsetzungen (siehe oben) – vorläufig „auf Null“ setzen. Bei einer Erstattung aufgrund nachträglich verminderter Zinshöhe wird das Finanzamt die zu viel gezahlten Steuerzinsen mit erstatten. Maßgeblich ist also der jeweilige Änderungsbetrag – nach oben und nach unten. Je nachdem, wie der Gesetzgeber die Ersatzregelung ausgestaltet, werden die Finanzämter die Nachzahlungs- und Erstattungszinsen entsprechend neu festsetzen.
Verzinsung bis 2018 bleibt weiter anwendbar
Das BVerfG hat das bisherige Recht für die Jahre 2014 bis 2018 ausdrücklich für weiter anwendbar erklärt. Trotz Verfassungswidrigkeit auch für diese Jahre muss der Gesetzgeber die Zinshöhe nicht rückwirkend ändern. Die Verfassungsrichter lassen es damit angesichts der drohenden Milliardenrückzahlungen bei einem „blauen Auge“ für den Fiskus. Für betroffene Steuerzahler, die zum Beispiel nach einer Betriebsprüfung hohe Steuernachzahlungen für die Jahre 2014 bis 2018 zu leisten hatten oder zukünftig noch leisten müssen, ist dieses Ergebnis bitter. Im krassesten Fall können immerhin bis zu 30 Prozent Zinsen für die betroffenen fünf Jahre angefallen sein beziehungsweise noch anfallen, die das BVerfG nunmehr legitimiert.
Unsere Meinung
Es bleibt abzuwarten, ob es zu einer Neuregelung mit einem deutlich niedrigeren Festzinssatz als bisher oder zu einem variablen Zinssatz kommt. In Anbetracht des aktuellen Marktzinsniveaus wäre nach unserer Beurteilung eine Vollverzinsung in Höhe von maximal drei Prozent pro Jahr angemessen.
Voraussichtlich wird der Gesetzgeber den aktuellen Beschluss des BVerfG zur Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen nicht unmittelbar eins zu eins auch auf die Höhe der steuerlichen Stundungs-, Aussetzungs- und Hinterziehungszinsen übertragen. Deren Anfall, so das BVerfG, würden Steuerpflichtige teilweise bewusst in Kauf nehmen – anders als bei der Vollverzinsung, die in weiten Bereichen auch durch die Bearbeitungsdauer in den Finanzämtern beeinflusst wird.
Zur Frage der Angemessenheit von Steuerzinsen ist aktuell ein weiteres maßgebliches Verfahren vor dem BVerfG anhängig, nämlich zur Abzinsung von Pensionsrückstellungen mit derzeit ebenfalls sechs Prozent pro Jahr. Das Finanzgericht Köln hat die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit vor etwa eineinhalb Jahren dem BVerfG vorgelegt, mit einer Entscheidung kann aber frühestens in zwei bis drei Jahren gerechnet werden. In Anbetracht der besonderen Wirkungsweise des steuerlichen Abrechnungszinses könnte dann ein Paukenschlag für den Fiskus folgen. Ein weiteres Verfahren vor dem BVerfG betrifft die Höhe des Abzinsungssatzes für Verbindlichkeiten von 5,5 Prozent pro Jahr in den Steuerbilanzen, das ebenfalls mit Spannung erwartet wird.